Die Toilettenpapier-Krise

Eine empirische Untersuchung des Nachfrageschocks zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland

Als im März 2020 der Corona-Virus nach Deutschland kam und steigende Infektionszahlen für eine gewisse Panik sorgten, kam es infolgedessen zu Hamsterkäufen bei bestimmten Gütern, z.B. Toilettenpapier und Desinfektionsmittel.

Bei einem funktionierenden Marktmechanismus ohne Restriktionen für Preis und Menge würden wir bei einem Anstieg der Nachfrage einen Anstieg der verkauften Menge und des Preises beobachten. Das war aber so nicht der Fall. Im stationären Einzelhandel sind Preise nahezu konstant. Hier war nur ein Mengeneffekt zu beobachten. Nach kurzer Zeit waren die betreffenden Waren dann ausverkauft. Im Online-Handel hingegen kam es zu teilweise extremen Preissteigerungen.

Aufgrund dieser Beobachtungen stellt sich die Frage, ob sich die Marktentwicklung auch mit Daten untersuchen läßt. Im stationären Handel ist das schwierig, aber im Online-Handel können zumindest Preise automatisiert erhoben und ausgewertet werden. Für diesen Zweck wurden über 40.000 Preise für Toilettenpapier und Desinfektionsmittel erhoben und untersucht.

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Hinweis

Dieser Text ist eine verkürzte Form meines Beitrags:

Die Toilettenpapier-Krise: Eine empirische Untersuchung des Nachfrageschocks zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland, in Wilke, Wohlmann (Hg.), Was kostet uns Corona? Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer globalen Pandemie, MA Akademie, Essen, 2020.

Daten

Für diese Untersuchung wurden verschiedene Datenquellen verwendet. Preis- und Mengendaten für den stationären Einzelhandel sind nicht öffentlich verfügbar. Hier konnten zumindest für einen Teil des Zeitraums Daten des Marktforschungsunternehmens Nielsen und von Preker und Tack (2020) verwendet werden.

Für den Online-Handel gibt es zwar keine Mengendaten, dafür aber umfangreiche Preisdaten. Von einem Preisvergleichsportal wurden 20.496 Preise von 56 verschiedenen Desinfektionsmitteln und 20.627 Preise von 57 verschiedenen Toilettenpapieren erhoben. Die Zeitreihen umfassen einen Zeitraum von maximal einem Jahr, so dass auch die Preise vor Beginn der Pandemie zuverlässig bestimmt werden konnten.

Ergänzend dazu wurde die Suchintensität nach diesen Produktkategorien aus Google Trends genutzt um das öffentliche Interesse abzuschätzen. Als auslösenden Faktor wurden die Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts verwendet.

Neben Toilettenpapier und Desinfektionsmittel wurden auch Preise von Backmischungen untersucht. Außerdem wurden auch Preise in Frankreich und Spanien erhoben. Allerdings haben sich hier keine Erkenntnisse ergeben.

Preise, Mengen und zeitliche Abfolge

Die folgende Abbildung zeigt oben die Infektionszahlen als Auslöser der Krise. Die mittlere und die untere Grafik zeigen jeweils die Suchintensität bei Google, die im stationären Einzelhandel umgesetzten Mengen (soweit vorhanden) und den durchschnittlichen Online-Preis als Vielfaches des Preises vor der Krise. Die mittlere Abbildung zeigt diese Werte für Desinfektionsmittel, die untere für Toilettenpapier.

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Bilderklärung

In den unteren beiden Charts werden Größen in unterschiedlichen Einheiten dargestellt. Um diese vergleichbar zu machen, wurden die Mengen und Priese jeweils auf ein Maximum von 100 normiert. Google Trends liefert die Werte sowieso in dieser Form.

Weil bei Desinfektionsmitteln Preise und Mengen stärker gestiegen sind, sind die maximalen Werte hier jeweils 100, bei Toilettenpapier sind sie geringer.

Für beide Güter fällt auf, dass zunächst die Suchintensität ansteigt, kurz darauf die Einzelhandelsmengen steigen und erst etwas später die Preise im Online-Handel zunehmen. Nun dürfte der anschließende Rückgang der Mengen im stationären Einzelhandel nicht auf ein Marktgleichgewicht hindeuten, sondern vielmehr darauf, dass die Lagerbestände vollständig verkauft sind. Wenn nun die Nachfrager auf den Online-Handel ausweichen, steigen dort die Preise.

Interessant ist auch der Vergleich der zeitlichen Abfolge für beide Güter. Sowohl die Suchintensität als auch die Mengen steigen bei Desinfektionsmittel bereits rasant an, bevor das Infektionsgeschehen in Deutschland spürbar zunimmt. In KW 9 war die Zahl der Infizierten noch im niedrigen dreistelligen Bereich. Hier zeigt sich deutlich die Erwartungshaltung aufgrund der Entwicklungen im Ausland.

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung kann außerdem festgestellt werden, dass Mengen- und Preiseffekte bei Desinfektionsmitteln deutlich größer waren als bei Toilettenpapier. Auch hält der höhere Preis länger an. Dies erscheint auch plausibel, denn bei Toilettenpapier handelt es sich um reine Vorratskäufe. Der Verbrauch wird nicht gestiegen sein. Bei Desinfektionsmittel hingegen ist auch der Verbrauch mittelfristig gestiegen.

Preisdispersion

Neben der Höhe der Preise ist auch deren Streuung interessant.

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Verwendete Tools:

Python, Jupyter, VS Code (Scraping, Analyse, Charts)
SQLite & Table Plus (Datenbank & Frontend)
Affinity Designer (Charts, Grafik)

Aufgrund der hohen Vergleichbarkeit neigen Online-Markte zu geringen Unterschieden zwischen den Preisen verschiedener Anbieter für das gleiche Gut. Bis zum sprunghaften Anstieg der Preise ist das auch zu beobachten, dann aber nimmt die Streuung extrem zu. Einzelne Desinfektionsmittel werden zu einem Preis über dem 100-fachen des bisherigen Durchschnittspreises angeboten. Selbst wenn das Ausreißer sind, so streuen doch in der Phase des höchsten Preisniveaus 95% der Preise zwischen ca. dem 6-fachen und dem 17-fachen Preis. Interessant ist auch, dass diese Streuung bei Desinfektionsmitteln wieder auf ein normales Maß zurückgegangen ist, während sie bei Toilettenpapier auch im August noch höher ist als vor dem Schock. Bei Toilettenpapier ist die Schwankung des Durchschnittspreises geringer und entsprechend auch die Streuung. Da beide Abbildungen auf die gleiche Höhe skaliert wurden, ist gut zu erkennen, dass die Streuung mit der Höhe ansteigt, wenn auch nicht in einem konstanten Verhältnis. Insgesamt ist eine hohe Streuung ein Zeichen dafür, dass der Markt noch nicht wieder in sein Gleichgewicht gefunden hat.

Theoretischer Hintergrund

Obwohl eine Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland nach den Be-obachtungen im Ausland eigentlich zu erwarten war, ist die Reaktion der Nachfrager doch relativ kurzfristig gewesen. Dies gilt insbesondere im Vergleich mit Produktionszyklen und Lieferketten im Handel. In der Folge herrschte kurzfristig eine Mengenrestriktion am Markt: Der Handel war nicht in der Lage, die angebotene Menge kurzfristig im notwendigen Maße auszuweiten. Bei Desinfektionsmitteln kam außerdem die gestiegene Nachfrage im Ausland sowie die Knappheit des wichtigsten Grundstoffs, des medizinischen Alkohols hinzu. Infolgedessen hielt der Lieferengpass hier deutlich länger an als bei Toilettenpapier.

Neben der Mengenbeschränkung (x1) sind aber auch die Preise im stationären Einzelhandel sehr rigide (p0). Das hat einerseits mit relativ hohen Menükosten (die Kosten einer Preisänderung) zu tun, vor allem aber mit den erwarteten negativen Folgen entsprechender Berichte in der Presse. Daher ist die Angebotskurve eine horizontale Linie bis zur Kapazitätsbeschränkung (x1). Bei steigender Nachfrage entsteht dann der Nachfrageüberhang (x2-x1), der ja auch zu beobachten war.

Im Online-Handel gilt die gleiche Mengenrestriktion (x1), allerdings sind die Preise hier deutlich flexibler, so dass die Angebotskurve einen ansteigenden Verlauf hat und sich der Mengenrestriktion anpasst. Zu erwarten ist daher, dass bei einem plötzlichen Anstieg der Nachfrage neben der Menge vor allem der Preis stark ansteigt (p1). Preiserhöhungen werden vom Verbraucher online eher akzeptiert, er ist an häufige Preisänderungen gewöhnt.

Kritische Betrachtung

Trotz der durchaus plausiblen Ergebnisse müssen die verwendeten Daten kritisch gesehen werden. Insbesondere fehlen die umgesetzten Mengen. Da es sich um Angebotspreise handelt ist nicht bekannt, ob zu diesen Preisen überhaupt Käufe stattgefunden haben. Außerdem sind Desinfektionsmittel und Toilettenpapier Güter, die typischerweise in stationären Handel und weniger im Internet gekauft werden.

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